Pissegate – Pressemappe

„Staatsschutz“ blitzt vor Gericht ab
Verfahren gegen Aktivistin eingestellt

„Was ist bloß in Augsburg los?“, titelte Netzpolitik.org in Bezug auf den Strafbefehl über 1.200 Euro, den die Augsburgerin Michaela Strattner auf Betreiben der Abteilung „Staatsschutz“ der Augsburger Polizei erhielt. Nicht mit einer liberalen Demokratie vereinbar, befand ein Berliner Experte für Versammlungsrecht [1]. Nun straft das Amtsgericht die in Kritik geratene Abteilung der Polizei ab und stellt das Verfahren ein.

Ungefähr 30 Protestierende zeigten am 24.11.2022 Solidarität mit der wegen Verstoß gegen das Versammlungsrecht Angeklagten.

Pressespiegel

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Netzpolitik.org

Care-Arbeit oder Sorgearbeit beschreibt die Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns. Darunter fällt Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freund*innen. Diese Arbeiten werden überwiegend von Frauen geleistet, oft als unbezahlte Hausarbeit gesellschaftlich als notwendig und selbstverständlich angesehen. Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, organisierte das Augsburger Feministische Streikkomitee am 5. März dieses Jahres eine Kundgebung auf dem Rathausplatz. Dabei wurde das Stück „Pisse“ der Band „Schnipo Schranke“ gespielt, das mit expliziter Sprache die Grenzen des weiblich Sagbaren austestet. Das ging der Abteilung „Staatsschutz“ der Augsburger Polizei zu weit: Ihrer Meinung nach habe das Stück keinen Bezug zum Versammlungsthema und stelle daher einen Verstoß gegen die Demonstrationsauflagen dar. 1.200 Euro soll die Anmelderin der Demonstration nun dafür zahlen.

Der „Fall“

Zwischen gemütlichen Couchen, auf Teppichen, Bierzeltgarnituren und anderen Sitzgelegenheiten entstand am 5. März 2022 der „Platz für Sorge“ auf dem Augsburger Rathausplatz. Das Feministische Streikkomitee begann bereits am Morgen dieses Samstags mit dem Programm, das bis in die Abendstunden „Sorgearbeit sichtbar machen“ sollte.

Care-Arbeit oder Sorgearbeit beschreibt die Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns. Darunter fällt Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freunden. Bislang wurden diese Arbeiten überwiegend von Frauen geleistet, oft als unbezahlte Hausarbeit gesellschaftlich als notwendig und selbstverständlich angesehen. Aber mit dem Wandel der Geschlechterordnung werden auch Hausarbeit, Sorge und Fürsorge neu verteilt – weiterhin überwiegend zwischen Frauen. Migrantinnen aus armen Ländern bedienen die steigende Nachfrage in Ländern des globalen Nordens.

Bundeszentrale für politische Bildung

Das Ziel hinter der Veranstaltung am 5. März: Zeit und Raum für Menschen zu schaffen, die am 8. März – dem internationalen feministischen Kampftag, einem Dienstag in diesem Jahr – nicht mit auf die Straße gehen konnten. Gründe hierfür sind unter erwerbstätigen Frauen oft die Verpflichtung als Mutter, Ehefrau oder Pflegende im familiären Kontext. Diese Tätigkeiten werden aber auch von anderen Personen ausgeübt, die deshalb ebenfalls nicht an der Demonstration zum 8. März teilnehmen können. Zu weiteren Gründen für die Nichtteilnahme zählen außerdem Schichtarbeit, Notfalldienste oder Bereitschaftsdienste zum Beispiel in der Pflege. 

Für diese Personengruppen veranstaltete das Feministische Streikkomitee über den Tag hinweg Workshops zu Geschlechterrollen oder zur Geschichte des Feministischen Kampftags, bot Material zur Gestaltung für Protestschilder oder Banner und untermalte die Aktivitäten mit feministischer Musik und Spoken-Word-Performances durch ein DJ-Team. Außerdem sollte der „Platz für Sorge“ auch Raum für Austausch bieten: für die interessierte Stadtöffentlichkeit, um in Ruhe ins Gespräch kommen zu können.

Vorwurf 1: Abspielen von Musikstücken zu Unterhaltungszwecken – „Pisse“

Das Lied „Pisse“ von Schnipo Schranke, das im Rahmen der Kundgebung abgespielt wurde, erregte die Aufmerksamkeit eines Passanten und seines 6-jährigen Sohnes. Er habe unangenehme Fragen beantworten müssen, so der Mann. Die Staatsanwaltschaft wirft fstrk aux vor, dass dieses Lied keinen Bezug zum Demonstrationsthema aufweist.

Diesem Vorwurf widersprechen wir entschieden: In „Pisse“ erzählt das weibliche lyrische Ich von einer Beziehung zu einer Person, die sie nicht oder nicht mehr liebt. Im Verlauf des Textes wird der Hörende Zeuge einer Emanzipation:Sie erkennt, dass die Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Anderen „der Abend ist mir nicht gelungen, so sagen böse Zungen“) oder des Anderen („Hab alles für Dich getan“) die Liebe nicht retten kann, sondern im Gegenteil zu einer Selbstverleugnung führt. Sie erkennt die Sexualisierung „Und war es doch am Ende, was dich hat überzeugt / Weder der Inhalt / Noch sein Gehalt sondern / Mein schöner Leib!“, „Find’st mich hübsch, doch voll daneben“ und die Abwertung „du findest mich ätzend, ich finde dich verletzend“, der sie in der Beziehung ausgesetzt ist. 

Diese Auseinandersetzung mit menschlichen Gefühlen wird in sehr expliziter Sprache vorgetragen, die im Kontrast zur weiblichen Singstimme und zur Popmelodie des Liedes steht. Die Band nutzt explizites Vokabular und zweideutige Anspielungen, um über Sex (Duo & Orgie), Oralsex,  Körperbehaarung und Alkoholismus zu sprechen. Gegen diese expliziten Aussagen, vor allem wenn sie durch weibliche Stimmen geäußert werden, regt sich weiterhin – wie der aktuelle Fall zeigt – gesellschaftlicher Widerstand eines „das kann man so doch nicht sagen, das gehört sich nicht“.

Die feministische Aktion „Platz für Sorge – Care-Arbeit sichtbar machen“ prangert auch diese Verleugnung von weiblichen Bedürfnissen, von offener sexueller Lust und von Körperfunktionen an. Gerade Beschäftigte in Pflegeberufen, aber auch Menschen, die unbezahlte Care-Arbeit verrichten (Mütter, Hausfrauen, usw.) leiden unter einem Frauenbild, das von ihnen die Zurückstellung ihrer eigenen Bedürfnisse fordert. Das Ausbrechen aus diesem Bild bzw. das Artikulieren dieser Bedürfnisse führt zu einer sozialen Stigmatisierung, zum Beispiel als „Rabenmutter“ oder als „undamenhafte Person“.

Die Obszönität des Liedes ist von den beiden Interpretinnen bewusst gewählt und grundlegender Teil ihres Stils. Schockieren kann das Lied dennoch, wie die Beschwerde des Passanten zeigt. Der Schock, der hier provoziert wurde, beweist, dass das Lied durchaus inhaltlich zur Kundgebung passt. Zur Beantwortung von unangenehmen Fragen waren die Aktivist*innen vor Ort, der Mann hat die Chance aber verstreichen lassen, sein Unbehagen auszusprechen.

Vorwurf 2: Aufruf zu Gewalt & Störung des öffentlichen Friedens

Das Abspielen von „Querdenker klatschen“ war keine geplante Aktion, sondern erfolgte spontan. Im Vorfeld hat sich unsere Gruppe darauf vorbereitet, dass die Demonstration unter dem Motto „Corona-Demo“ an diesem Samstag am Rathausplatz vorbeiziehen wird. Wir haben ein Sicherheitskonzept erstellt, dass unsere Veranstaltung vor Blicken und Störungen schützen sollte – darin steht, dass wir beim Passieren des Demonstrationszuges unseren Raum durch Banner abschirmen, was genauso und friedlich geschehen ist. Für das Abspielen des Liedes entschieden wir uns spontan, um unseren Gegenprotest zum Ausdruck zu bringen. Die Band prangert an, dass die Protestbewegung für „freie Impfentscheidung“ und „für die Aufhebung aller Maßnahmen“, wie sie von der stattfindenden Corona-Demo gefordert wurde, einem egoistischen Weltbild entspringt, das die Folgen der Pandemie verkennt.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Beschäftigte in medizinischen Berufen, vor allem in der Pflege, wegen des Corona-Virus mit unzumutbaren Arbeitsbedingungen konfrontiert sind, wollten wir uns – inhaltlich wie optisch – von der Demo abgrenzen. Das Motto erschien uns höhnisch, im Hinblick darauf, worauf wir am 5. und am 8. März aufmerksam machen wollten. Wir wollten gewährleisten, dass sich die Personen, die sich auf dem Rathausplatz befanden, nicht unfreiwillig mit dem Demonstrationszug befassen müssen. Aufgrund der Lautstärke der Demonstrierenden war dies jedoch kaum möglich. Daher unsere spontane Entscheidung, dem ganzen auch musikalisch Ausdruck zu verleihen. Wir wählten „Querdenker klatschen“ unter anderem wegen der Textzeile „Glaub mir, viel lieber würd ich klatschen dafür, dass die Pflegenden endlich verdien’n, was sie verdien’n.“

Der Demonstrationszug gegen Coronamaßnahmen zog davon unbeeinträchtigt vorbei, weder die Lautstärke noch eine andere Aktion aus den Reihen des fstrk aux störte laut Zeugenaussage den Verlauf der Demonstration.

Der Kontext: Schikane gegen linken Protest hat anscheinend Methode

Seit einiger Zeit häufen sich die Schikanen gegen linke Augsburger Aktivist*innen: Der „Staatsschutz“ durchsucht das Kinderzimmer der damals 15-jährigen Janika Pondorf, die sich in der Fridays-for-Future-Bewegung und für das Augsburger Klimacamp engagiert. Während der Hausdurchsuchung von Alexander Mai, dessen Fall als Pimmelgate Süd bekannt ist, verweigern ihm die Beamten des „Staatsschutzes“ das Telefonat mit seiner Anwältin, das ihm rechtlich zusteht. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen dieses Vorgehen blieb bislang unkommentiert. Aktivist*innen des Augsburger Klimacamps seien laut Ingo Blechschmidt, einem Mitglied des KC-Sprecherkreises, ständig den Repressionen des „Staatsschutzes“ ausgesetzt

Die Verhandlung

Am Donnerstag, dem 24. November 2022, tritt das Feministische Streikkomitee den Vorwürfen vor Gericht entgegen. Anwältin Martina Sulzberger, die die Verteidigung in diesem Fall übernommen hat, gibt zu bedenken, dass hier mit der Versammlungsfreiheit ein nicht zu verachtendes Grundrecht zur Debatte steht. 

Das Urteil

Knapp 30 Prozessbeobachter*innen

Nachdem ursprünglich das Ordnungsamt der Auffassung der Abteilung „Staatsschutz“ gefolgt war und sogar die Polizei angewiesen hatte, auf einer Folgeversammlung bei etwaiger Wiederholung des Lieds einzuschreiten, korrigierte es am Dienstag seine Haltung. Dies teilte das Feministische Streikkomitee Augsburg am gestrigen Mittwoch mit. Entsprechend wurde heute das betreffende Lied bei einer Solidaritätskundgebung vor dem Amtsgericht in hoher Lautstärke gespielt – insgesamt viermal, so oft erlaubte es das Ordnungsamt.

Knapp 30 Prozessbeobachter*innen wollten die Verhandlung verfolgen. Aufgrund eigens angeordneter spezieller Sicherheitskontrollen, zu denen auch die sonst vor Gericht nicht übliche Personalienkontrolle gehörte, konnten aber weniger als die Hälfte der Interessierten rechtzeitig vor Prozessende in den Gerichtssaal. Auch ein Journalistenteam von a.tv wurde so ausgesperrt.

Rechtliche Schritte gegen Abteilung „Staatsschutz“

Das heutige Urteil ist nicht das Ende des Vorfalls. Strattner und ihre Unterstützer*innen kündigten bereits an, im Zuge des positiven Urteils rechtliche Schritte gegen die Abteilung „Staatsschutz“ der Augsburger Polizei zu prüfen. Trotz des Einschüchterungsversuchs der Abteilung „Staatsschutz“ ist Strattner unterdessen nicht untätig: Sie organisiert zusammen mit ihren Mitstreiter*innen vom Feministischen Streikkomitee Augsburg schon die nächste große Demonstration für Geschlechtergerechtigkeit. Am 8. März kommenden Jahres, dem internationalen feministischen Kampftag, wird sie stattfinden. Und bestimmt wird dort auch wieder das Kultlied gespielt werden, wegen dem der „Staatsschutz“ heute vor Gericht scheiterte.

Kontakt

Versammlungsanmelderin: Michaela Strattner (+4915128909238, f-streik-aux@riseup.net)
Rechtsanwältin: Martina Sulzberger (+4982150873850)

Spenden

Neben Unterstützung am Tag der Pressekonferenz und der Verhandlung freut sich das Feministische Streikkomitee auch über finanzielle Beträge, um die finanziellen Belastungen des Verfahrens zu stemmen. Spenden, egal wie hoch, gerne an:

Kontoinhaberin: Frauenzentrum Augsburg e.V.
IBAN: DE 66 72050000 0810404608
BIC: AUGSDE77XXX
Bank: Sparkasse Augsburg
Verwendungszweck: Pissegate